Berthold Vogel im Interview

Ein Gespräch mit dem Soziologen Berthold Vogel über soziale Isolation, Missgunst – und was sich dagegen tut lässt.





brand eins: Herr Vogel, die Bundesregierung hat im Dezember eine Strategie zur Bekämpfung der Einsamkeit vorgestellt – ist das nicht ein privates Gefühl, das die Regierung nichts angeht?

Berthold Vogel: Einsamkeit ist ein persönliches Gefühl, aber sie hat auch gesellschaftliche und politische Ursachen und Folgen. Deshalb ist sie auch für Soziologen interessant. Wir haben mehr Single-Haushalte, viele Menschen leben nicht in familiären Beziehungen. Unsere Lebensform ist heute eine andere als vor Jahrzehnten. Die Orte des Zusammenfindens, Kreuzungspunkte der Gesellschaft, haben sich verändert. Solche Institutionen – Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, aber auch die Arbeitswelt – bilden Vergemeinschaftungskerne. Dass sie an Bindekraft verlieren, hat Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Über Individualisierung wird seit Jahrzehnten diskutiert. Was ist neu, etwa in der Arbeitswelt?

Die Corona-Pandemie war ein Einschnitt, nicht nur wegen der Vereinzelung im Homeoffice. Aber schon zuvor sind Arbeitszusammenhänge aufgetrennt und Belegschaften zerrissen worden, etwa durch unterschiedliche Beschäftigungsformen innerhalb der Unternehmen, also Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder Solo-Selbstständigkeit neben der Festanstellung.

Was ist so schlimm an dieser größeren Flexibilität?

Flexibilität ist für sich genommen nicht schlimm. Sicher erleben viele Menschen die Möglichkeiten etwa von Remote Work als Erleichterung. Es wäre auch ein Kurzschluss, jeden Single-Haushalt für ein Indiz wachsender Einsamkeit zu halten. Auch ist gewiss nicht jeder Leiharbeiter sozial deklassiert. Aber all diese Entwicklungen bedeuten insgesamt signifikante Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsformen.


„Wenn ich nur noch meine Ressentiments pflege, vergifte ich mein Weltgefühl.“

Sie zitieren in Ihrem neuen Buch über „Einsamkeit und Ressentiment“ zahlreiche Erhebungen, die darauf hindeuten, dass bedrückende Erfahrungen von Einsamkeit seit der Pandemie deutlich zugenommen haben. Welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen hat Corona?

Die Pandemie hat unsere Verwundbarkeit erbarmungslos beleuchtet: Defizite in der Infrastruktur, aber auch die Brüchigkeit sozialer Beziehungen und Tendenzen zur Isolation. Umgekehrt hat sie aber auch erhebliche Anstrengungen praktischer Solidarität freigesetzt. Ihr folgenreichster Effekt ist gleichwohl negativ, nämlich die Beschädigung des Vertrauens in staatliches Handeln und öffentliche Institutionen, aber auch in die Gesellschaft als solche, in das Gegenüber, den Nahbereich, die sozialen Beziehungen.

Kann dieser Vertrauensverlust zum Nährboden politischer Radikalisierung werden?

Wenn man sich beispielsweise Selbstauskünfte von AfD-Politikern ansieht, fällt auf, dass viele von ihnen die staatlichen Maßnahmen in der Pandemie als einen Auslöser ihrer Abwendung von den demokratischen Parteien beschreiben. Vielleicht hat der Erfolg der AfD mehr mit der Pandemie zu tun, als wir bisher annehmen.

Machen soziale Isolation und das Gefühl von Ohnmacht anfällig für Ressentiments?

Das kann man zumindest vermuten. Es ist naheliegend, dass sozialer Austausch und stabile soziale Beziehungen Korrektive zum Beispiel gegen Verschwörungsideologien sein können. Umgekehrt kann geteiltes Ressentiment aber auch gemeinschaftsstiftend wirken: Man fühlt sich im Hass gegen eine imaginäre Bedrohung verbunden.

Können sich auch Menschen einsam fühlen, die den ganzen Tag viele Kontakte haben?

Das gibt es sicher. In der Pandemie konnten wir auch das Gegenteil beobachten: Einsamkeit als gemeinschaftliche Erfahrung. Wenn es vielen ähnlich geht, ist das nicht mehr demütigend.

Ich persönlich bin ganz gern allein, aber ich bin nicht einsam. Kann man es nicht auch genießen, wenn das soziale Rauschen mal Pause macht?

Im Englischen gibt es die Begriffe Solitude und Loneliness. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Loneliness bezeichnet eine Mangelerfahrung: Ich habe zu wenig Austausch, ich bin auf mich selbst zurückgeworfen. Solitude meint dagegen die selbst gewählte Einsamkeit. Die beiden Begriffe zeigen die Ambivalenz des Phänomens.

Solitude, der gezielte Rückzug, die innere Einkehr, hat eine lange, oft auch spirituell konnotierte Tradition. Es ist interessant, dass zum Beispiel Klöster einen enormen Zulauf erleben – weil viele Menschen eine Auszeit dort nutzen, um einer zunehmend lauten, hektischen und überkommunikativen Gesellschaft zu entkommen. Das ist etwas grundlegend anderes als die Situation von Menschen, die unter sozialer Isolation leiden.

Wir sehen also gleichzeitig mehr Einsamkeit und mehr Kommunikationsstress durch die digitalen Medien?

Ja, das kann man so sagen. Aber auch hier ist das Bild nicht eindeutig, denn die Digitalisierung bietet auch Möglichkeiten, soziale Isolation zu durchbrechen und in Austausch mit anderen zu kommen. Arbeit im Homeoffice muss nicht Vereinzelung bedeuten, sondern kann zum Beispiel dem Familienleben zuträglich sein.

Die Teilhabe am sozialen Leben kostet Geld – macht Armut einsam?

Ich würde armen Menschen nicht pauschal unterstellen, zwangsläufig zu vereinsamen. Aber wenn man über wenig materielle Ressourcen verfügt, wenn der Vergleich mit anderen demütigend ist, kann das zur Entkopplung von der Gesellschaft führen. Man zieht sich aus sozialer Scham immer stärker zurück.

Generell gilt: Wenn es kein Milieu gibt, in dem Menschen Gemeinschaft finden, auch wenn sie wohlhabend sind, wächst das Risiko sozialer Isolation. Wer aus materiellen Gründen an vielem nicht teilhaben kann und das Gefühl hat, gesellschaftlichen Standards nicht zu genügen, kann die Gesellschaft als feindselig erleben.

Ist Einsamkeit ungesund?

Dazu gibt es valide empirische Erhebungen. Wer einsam lebt, lebt oft auch ungesünder, kümmert sich weniger um gesundheitliche Vorsorge als jemand mit Partner, familiären Bindungen oder engen Freundschaftsbeziehungen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat vor einigen Jahren eine „Gesellschaft der Singularitäten“ diagnostiziert. Er beschreibt eine Kultur, in der vor allem Einzigartigkeit zählt. Verlernen wir angesichts eines solchen extremen Individualismus uns als Teil der Gesellschaft zu verstehen?

Ich vermute, dass Reckwitz das Problem insgesamt etwas überschätzt. Er beschreibt ein bestimmtes Milieu, Leute in Kreativberufen, die solchen Imperativen möglicherweise folgen. Diese Diagnose unterschätzt in ihrer Zuspitzung die immer noch vorhandene Integrationskraft tradierter Institutionen und Arbeitsformen. Noch gibt es zum Beispiel gewerkschaftliche Milieus und industrielle Arbeit. Beim derzeitigen Zulauf zu Gewerkschaften kann man vermuten, dass es nicht nur um Tarifverträge geht, sondern auch darum, dass Gewerkschaften Vergemeinschaftungsperspektiven anbieten. Aktuell verzeichnen auch fast alle politischen Parteien Zuwachs. Diese Entwicklungen passen nicht zur These einer Gesellschaft der Singularitäten.

Also ist die These von Reckwitz zu simpel?

Der Erfolg seines Buches zeigt, dass sich zumindest ein bestimmtes Milieu darin wiedererkennt. Der gefühlte Imperativ, sich als einzigartiges Individuum zu inszenieren, ist vermutlich auch ein Stressfaktor. Das würde ich schon ernst nehmen. Aber die Entwicklungen sind nicht so linear. Es gibt Individualisierungstendenzen, aber es gibt offenbar auch den Wunsch nach Vergemeinschaftungsangeboten.

Früher galt die Dorfgemeinschaft als Idealbild intakter Beziehungen, aber man kann auch auf dem Land gemeinsam einsam sein, oder?

Für das Phänomen kollektiver Einsamkeit habe ich ein Thüringer Dorf vor Augen, das wir vor einigen Jahren untersucht haben. Dort war die junge Generation abgewandert, nur die Älteren waren geblieben. Die Erfahrung abgekoppelt zu sein, zu erleben, wie familiäre Bindungen brüchig werden, etwa wenn die Kinder nicht mehr zurückkommen, ein schmerzhafter Mangel an sozialem Kapital – das sind starke Verlusterfahrungen.

Doch vermutlich ist auch unter Jugendlichen im ländlichen Raum das Gefühl von Einsamkeit gar nicht so selten. Es gibt vielleicht noch die Jugendfeuerwehr oder den Fußballverein, aber insgesamt sind weniger Kinder und Jugendliche da. Dass man sich nachmittags auf dem Fußballplatz trifft und alle kicken, bis es dunkel wird, ist längst die Ausnahme.

Gilt das besonders für Schlafdörfer, in denen viele Einwohner zur Arbeit in die Stadt pendeln?

Nicht nur, aber auch. Soziale Isolation hat eine räumliche Komponente. Wenn die Kinder lange Strecken zur nächsten Schule fahren, findet die Vergemeinschaftung in der Schule, aber nicht mehr im Dorf statt. Wenn die Begegnungsräume wegfallen, wenn es nicht einmal mehr eine Gaststätte oder einen kleinen Laden gibt, ist es im Dorf vielleicht einsamer als in der Stadt.

Was kann man dagegen tun?

Ich kenne Initiativen, die den Dorfladen retten, um einen Begegnungsort zu haben. In strukturschwachen Regionen, die ökonomisch viel an Substanz verloren und sich auch demografisch stark verändert haben, geht es darum, solche Kreuzungspunkte zu schaffen – das, was früher die Kirche war, das Gasthaus oder Vereinsleben. Man darf nicht unterschätzen, was es bedeutet, wenn diese Orte verschwinden. Das dörfliche Leben hat sich viel stärker verändert als das Leben in der Stadt.

Was folgt daraus?

Der ländliche Raum macht heute schon Erfahrungen, von denen die Gesellschaft insgesamt lernen kann. Die Überalterung ist auf dem Land schon da, in den Städten kommt sie erst noch. Wir planen im Moment ein interessantes Projekt mit der Stadt Mannheim, wo wir versuchen, von den Erfahrungen aus dem ländlichen Raum für die Stadtquartiere zu lernen. Es gibt in Mannheim Wohnviertel, in denen sehr viele unterschiedliche Gruppen leben, von den Alten bis zu den Studenten, von den Kurden bis zu den Bulgaren. Wie kann man da Kreuzungspunkte schaffen, die den Stadtteil zusammenbringen? Können wir von dörflichen Erfahrungen lernen? Um nicht kommerzielle Begegnungsräume zu schaffen, braucht es bewusste Entscheidungen in der Stadtplanung oder konkrete Projekte.

Hängen die nicht vom Engagement einzelner Bürgerinnen und Bürger ab?

Es kommt immer auf die Personen an. Wir sprechen gern von Virtuosen des Wandels. Die Region Saalfeld-Rudolfstadt zum Beispiel hat seit vielen Jahren ein erhebliches Problem mit Rechtsextremismus und völkischen Siedlern. Aber es gibt dort auch engagierte Leute, die ich dafür bewundere, dass sie sich für demokratische Orte, für soziale Begegnungsräume einsetzen – teilweise unter widrigen Rahmenbedingungen. In Saalfeld-Rudolfstadt gibt es sehr aktive Bürgermeisterinnen, Bürgermeister und einen Landrat, die sich für diese Etablierung solcher sozialer Orte starkmachen. Extrem wichtig ist, dass die Verwaltung weiß, wie man an Projektmittel kommt und wie man einen Förderantrag ausfüllt. Welche Gebäude hat die Stadt, die man dafür vielleicht nutzen könnte? Schon so eine gemeinsame Initiative hat für die Beteiligten eine vergemeinschaftende Wirkung.

Die Soziologin Eva Illouz nennt Einsamkeit eine „undemokratische Emotion“. Stimmen Sie zu?

Ja, insofern als Demokratie immer etwas mit Zusammenhalt und sozialem Austausch zu tun hat. Zu Demokratie gehört, sich selbst als Teil der Gesellschaft zu verstehen. Wir haben darüber gesprochen, dass Einsamkeit Ressentiments befördern kann. Man wünscht anderen Böses, weil man glaubt, Böses von ihnen erlitten zu haben. Deshalb ist der Vertrauensverlust so gefährlich: Wenn ich die Gesellschaft als fremd oder sogar als feindlich erlebe, kann das zu Ressentiments führen. Das hat etwas von einer emotionalen Selbstvergiftung: Man setzt sich selbst und die eigene Position absolut und nimmt andere als feindlich wahr. Eine Partei wie die AfD fördert und bewirtschaftet solche Gefühle.

Aber Missgunst hat auch etwas nach innen Gerichtetes, sie blockiert unbefangenen sozialen Austausch. Wenn ich nur noch meine Ressentiments pflege, vergifte ich mein Weltgefühl.

Wer ist besonders anfällig dafür?

In der Forschung zur sozialen Mobilität werden Ressentiments vor allem bei Menschen verortet, die einen Abstieg, einen Statusverlust hinter sich haben. Aber auch Aufsteiger, die sich nach oben kämpfen, können starke Abneigungen entwickeln, zum Beispiel gegen diejenigen, die schon mit Privilegien geboren wurden. Insofern wäre ich mit zu eindeutigen sozialen Verortungen vorsichtig. Fest steht: Ressentiments haben mit sozialer Mobilität zu tun. Eine Kasten- oder Ständegesellschaft produziert weniger Ressentiments als eine mobilitätsgetriebene, dynamische Klassengesellschaft, in der Auf- und Abstiege stattfinden.

Was ist die Verbindung zwischen Einsamkeit und Missgunst?

Vielleicht die Bitterkeit, die damit einhergeht. Einsamkeit hat etwas Bitteres: Man ist auf sich selbst bezogen und findet keinen Anschluss. Das verbindet Einsamkeit mit Ressentiments. Demokratie braucht das Gegenteil: die Fähigkeit, auch die Perspektiven und Interessen von anderen ernst zu nehmen. Man muss lernen, einen Konsens mit anderen zu finden. Das ist nicht möglich, wenn ich nur noch mit mir selbst verkehre. Auf Einsamkeit und Ressentiments lässt sich keine demokratische Gesellschaft bauen. ---

Berthold Vogel, Jahrgang 1963, ist Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen. Der Soziologie-Professor unterrichtet an den Universitäten Göttingen, Kassel und St. Gallen.

Im März hat er gemeinsam mit dem Verfassungsrechtler Jens Kersten und der Raumsoziologin Claudia Neu das Buch „Einsamkeit und Ressentiment“ in der Hamburger Edition veröffentlicht.