Zwischen Rechtsvorschrift und Profitinteressen

Die Gewichtigen

In einer Welt, die stetig komplexer wird, steigt auch die Bedeutung derjenigen, die Orientierung bieten, indem sie zwischen Rechtsvorschriften und unternehmerischem Erfolg vermitteln – und immer wieder Neuland ausloten: Wirtschaftsanwälte. Der Philosoph Christian Schüle über eine Profession von entscheidender Relevanz.





/ Man war extra in einen größeren Saal umgezogen, aber auch da wurde es im Zuschauerraum eng. Das Interesse an der Urteilsverkündung war enorm.

Da saß er dann, ein wenig in sich zusammengesunken: Ulf Johannemann, der ehemalige Freshfields-Partner, der so tief gefallen war wie kaum ein Spitzenanwalt vor ihm. An diesem Tag wurde er verurteilt zu dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung wegen Beihilfe zur schweren Steuerhinterziehung. Stichwort: Cum-Ex. Johannemann, heute 53 Jahre alt, hatte Banken zu illegalen Geschäften mit der Rückerstattung ihrer Kapitalertragssteuer beraten. Sie kassierten also doppelt. Geschätzter Schaden für die Allgemeinheit: 388,6 Millionen Euro.

Dieser „Absturz eines Spitzenjuristen“ (Handelsblatt) ist der seit Jahrzehnten womöglich lehrreichste Fall einer Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Rechtstreue und Rechtsbruch, Effizienz und Ethik. Man könnte denken, Ulf Johannemann, einst weltweiter Steuerchef der Großkanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, weltweit 4.700 Beschäftigte, sei seiner Aufgabe als Topanwalt nicht gerecht geworden. Aber so war es nicht, im Gegenteil: Johannemann hat durchaus performed. Sein Problem war, dass er es übertrieben hat – und damit Recht verletzt.

Tagtäglich an die Grenze

Normalerweise ist für jeden Anwalt das Gesetz die Grenze. Wo genau die liegt, ist aber nicht immer eindeutig. Der eine interpretiert die Paragrafen konservativ und zurückhaltend, der andere sieht Spielraum und ist risikobereit. Im Bestreben, das Bestmögliche für ihre Mandanten herauszuholen, loten Wirtschaftsanwälte tagtäglich die Grenzen der Gesetze aus. Bevor es andere tun, sind sie es, die in einer immer stärker von Vorschriften und Paragrafen eingefassten Welt Neuland betreten. Sie erkunden die Grauzonen, interpretieren Lücken, eruieren, wo es auf welchem Wege welche Vorteile gibt. Kurz: Ohne Wirtschaftsanwälte ginge in der heutigen Wirtschaft wenig.

Aus der zweiten Reihe heraus gestalten sie maßgeblich Geschehen wie auch Gesellschaft. Sie können forcieren oder bremsen, ermöglichen oder verhindern, zu- oder abraten. CEOs, die in der vordersten Reihe die Entscheidungen treffen müssen, sind wesentlich auf ihre Expertise angewiesen. Hebt die beratende Anwältin die Augenbraue, vergeht womöglich sofort der Appetit auf einen riskanten Zukauf.

Da so gut wie alles, was auf Märkten geschieht, vom Recht durchwirkt ist, hat so gut wie alles mit Wirtschaftsjuristen zu tun. Je mehr die wirtschaftliche Verflechtung weltweit wächst, desto unentbehrlicher wird die Arbeit der Spezialisten. Mit den global vernetzten Aktivitäten der Unternehmen steigen allerdings auch die Anforderungen an ihre Rechtsberater in hohem Maße. Denn mit der Komplexität der Weltmärkte wächst die Komplexität ihrer staatlichen Regulation, die Anwälte in einen praktizierbaren Alltag übersetzen müssen.

Jedes Gesetz aus Berlin, jede neue Richtlinie aus Brüssel verlangt eine Reaktion. Je mehr Regeln, desto mehr anwaltliche Beratung ist gefragt, desto mehr muss übersetzt werden. Junge Rechtswissenschaftler mit Prädikatsexamen, die als Volljuristen auch Richter oder Staatsanwältinnen werden könnten, werden mit hohen Einstiegsgehältern hofiert. Denn ohne Anwälte geht nur noch wenig, sollen Welt und Wirtschaft transformiert werden.

Und das bedeutet sehr, sehr viel Arbeit: Wirtschaftsstrafrechtler handhaben gigantische Fälle wie den Dieselskandal von VW; Transaktionsanwälte entwickeln steuermindernde Modelle bei Großfusionen; Kartellrechtsanwälte konzipieren Geschäftsmodelle, die den unzulässigen Informationsaustausch potenzieller Konkurrenten bei neuen Produkten ausschließen; Wettbewerbsanwälte verfolgen unlauteres Verhalten von Mitbewerbern; Finanzanwälte besorgen Kapital bei Banken. Und wer beurteilt, ob ein geplanter Unternehmenszukauf der Richtlinie zu „Environment-Social-Governance“ (ESG) genügt? Wirtschaftsanwälte! Wer schätzt die zusätzlichen Kosten bei fehlender ESG-Konformität ab? Wirtschaftsanwälte! Wer prüft, was genau CO2-neutral heißt und ob internationale Standards von grenzüberschreitend agierenden Unternehmen umgesetzt werden? Wirtschaftsanwälte!

Als Übersetzer suchen sie aber auch die Lücken, die das jeweils geschriebene Recht lässt. In der Grauzone kommt es darauf an, die Grenzen der Gesetze so zu interpretieren, dass sie gerade eben nicht überschritten werden. Möglichkeiten auszureizen ist nicht verwerflich, Cleverness nicht strafbar – solange man es nicht übertreibt wie Ulf Johannemann.

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